Der zersprungene Spiegel
Ein modernes Märchen über Organisationen, die ihre Seele verloren haben – und über den Mut, in den Splittern wieder Ganzes zu sehen.
Es war einmal ein Haus aus Glas und Beton, in dem Tag für Tag Licht flutete, ohne wirklich zu wärmen. Dort arbeiteten viele Menschen. Sie saßen in Räumen voller Worte, Strategien und Versprechen. Und im Eingangsbereich dieses Hauses hing ein Spiegel – groß, silbern, makellos.
Er war mehr als Schmuck. Er galt als Herz des Hauses. Jeder, der kam, warf ihm einen kurzen Blick zu, als wolle er sich vergewissern, dass er dazugehört. Im Spiegel sah man sich nicht nur selbst, sondern auch das, was man verkörpern sollte: Stärke, Begeisterung, Zusammenhalt.
Doch eines Morgens, nach einer langen Nacht voller Unruhe, war der Spiegel gesprungen. Niemand wusste, wie es geschehen war. Vielleicht war ein Windstoß durch die Halle gefahren. Vielleicht hatte das Glas die Spannungen im Haus nicht länger ertragen.
Zuerst war es nur ein feiner Riss, kaum sichtbar. Aber schon bald schien er sich auszubreiten, wie ein stilles Netz aus Fragen.
„Wer hat das getan?“ fragten einige.
„Wer trägt die Schuld?“ fragten andere.
Und wieder andere sagten: „Man sollte ihn ersetzen, bevor Gäste kommen.“
Doch der Spiegel blieb hängen.
Tag für Tag ging man an ihm vorbei, und immer mehr bemerkten, dass ihr eigenes Bild seltsam geworden war.
Die einen sahen sich größer, wichtiger, mächtiger als zuvor.
Andere erkannten sich kaum wieder – zu blass, zu müde, zu leer.
Und manche sahen gar nichts mehr.
Bald begann man, sich über die Brüche zu streiten.
„In meinem Teil ist alles klar“, sagte einer.
„In deinem Teil liegt der Fehler“, sagte ein anderer.
So entstanden Lager, Meinungen, Abteilungen.
Und der Spiegel schwieg.
Eines Tages kam jemand, der nicht suchte, wer schuld war, sondern was der Spiegel zeigen wollte.
Er sah nicht in die Mitte, sondern in die Ränder, wo sich Licht in den Scherben brach.
Und dort entdeckte er, dass jede Linie, jeder Sprung, eine Geschichte trug – von nicht gehörten Stimmen, von übersehenen Sorgen, von Worten, die man geschluckt hatte, damit das Bild makellos blieb.
Da begriff er: Der Spiegel war nicht zerbrochen.
Er hatte sich geöffnet.
Und so begann er, die Menschen einzuladen, in die Risse zu schauen.
Nicht um sie zu kitten, sondern um zu verstehen, was sie verband.
Nach und nach traten die Stimmen hervor, erzählten, hörten einander zu.
Das Haus wurde stiller – und zugleich lebendiger.
Als das Licht eines Morgens durch die Halle fiel, schimmerte der Spiegel in hundert Facetten.
Kein Bild war vollkommen, doch jedes war wahr.
Und wer an ihm vorbeiging, sah sich nicht länger allein.
Denn im zerbrochenen Spiegel war nun Platz für alle.
Mehr über die die Methode „Märchen im Coaching“ findest du hier.
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