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Besprechungskultur

Der Fall der verlorenen Entscheidungszeit – warum unsere Besprechungskultur Unternehmen lähmt

Dienstagmorgen, neun Uhr. Der Konferenzraum ist gefüllt, die Luft schwer von Kaffee und unausgesprochenem Pflichtgefühl. Eine Stunde später haben alle gesprochen, aber nichts ist entschieden. „Schon wieder vertagt“, murmelt jemand auf dem Flur. Die Gesichter verraten Müdigkeit und unterschwellige Gereiztheit. Was bleibt, ist das Gefühl, dass Zeit verschwendet wurde – wertvolle Zeit, die keiner zurückbekommt.

Dieser kleine Ausschnitt ist kein Einzelfall. Er steht für ein Muster, das in unzähligen Unternehmen auf der ganzen Welt zu beobachten ist. Besprechungen sind eigentlich dazu gedacht, Orientierung zu schaffen, Informationen auszutauschen und Entscheidungen herbeizuführen. Doch die Realität sieht oft anders aus. Eine Untersuchung der Harvard Business Review zeigt, dass rund 70 Prozent der Meetings von den Teilnehmenden als unproduktiv empfunden werden – und das quer durch Branchen und Hierarchieebenen. Die Folge: Frust, sinkende Motivation und ein enormer wirtschaftlicher Schaden.


Wenn Meetings mehr Energie rauben, als sie geben

Viele Mitarbeitende berichten, dass ihre Kalender von einer Flut an Meetings dominiert werden. Der Microsoft Work Trend Index etwa weist darauf hin, dass Angestellte im Schnitt mehr als 80 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Abstimmungen, Calls und Besprechungen verbringen. Was als Koordination gedacht ist, entzieht dem eigentlichen Arbeiten die Luft. Die Folge: keine ungestörten Konzentrationsphasen mehr, sondern ein permanentes Reagieren.

Noch deutlicher wird es in virtuellen Formaten. Wer viele Stunden in Videokonferenzen verbringt, kennt das Phänomen: die Selbstbeobachtung vor der Kamera, die ständige Fokussierung auf kleine Bildschirme, das Ringen um Wortbeiträge. Eine Studie der Stanford University spricht hier von Zoom Fatigue – einem Erschöpfungszustand, der nicht nur kognitiv, sondern auch emotional belastet. Andere Forschungen gehen noch weiter: In digitalen Meetings steigt die Tendenz zur Konformität. Menschen passen sich an, statt mutig eigene Ideen einzubringen.

Doch es geht nicht nur um Überlastung im Moment. Forscher wie Steven Rogelberg beschreiben den sogenannten Meeting Hangover: ein negatives Nachwirken, das über das eigentliche Meeting hinaus anhält. Man verlässt die Runde gereizt, müde oder zynisch – und trägt diese Stimmung in den restlichen Arbeitstag hinein. Damit belasten schlechte Besprechungen nicht nur die Produktivität, sondern auch das Miteinander im Team.


Der systemische Blick: Meetings als Spiegel der Organisation

Wenn man Meetings als isoliertes Problem betrachtet, landet man schnell bei oberflächlichen Tipps: kürzere Agenda, bessere Moderation, pünktlich anfangen und aufhören. Alles sinnvoll – und doch nur Kosmetik.

Ein systemischer Blick zeigt: Meetings sind Symptome. Sie spiegeln die Kultur einer Organisation wider.

  • Wenn Entscheidungen immer wieder vertagt werden, weist das auf eine tiefere Unsicherheit im Unternehmen hin. Man scheut die Verantwortung, verteilt sie lieber auf viele Schultern – in der Hoffnung, dass niemand allein schuldig wird.
  • Wenn die immer gleichen Personen reden und andere schweigen, zeigt das unausgesprochene Machtmuster. Hierarchien, Rollen und sogar alte Konflikte werden in den Besprechungsrunden sichtbar, ohne dass man sie offen benennt.
  • Wenn Besprechungen wie Rituale ablaufen, ohne dass sich wirklich etwas verändert, kann das auf eine Organisation hindeuten, die mehr Wert auf Absicherung als auf Innovation legt.

Als systemischer Coach schaue ich auf diese Konstellationen wie ein Detektiv. Nicht, um Schuldige zu finden, sondern um Muster sichtbar zu machen. Wer profitiert davon, dass Meetings so laufen, wie sie laufen? Welche Stimmen fehlen? Und welche unausgesprochenen Regeln lenken das Geschehen?


Ein Beispiel aus der Praxis

In einem mittelständischen Unternehmen, das ich begleiten durfte, klagten Mitarbeitende über „endlose Jour Fixes“. Jede Woche saßen sie drei Stunden zusammen, ohne dass Entscheidungen fielen. Die Geschäftsführung erklärte, man wolle „alle mitnehmen“. Doch in Wahrheit fürchtete man, sich festlegen zu müssen. Entscheidungen wurden vertagt, bis sie irgendwann von außen – durch Kunden oder den Markt – erzwungen wurden.

Im Coaching wurde deutlich: Die Besprechung war kein Instrument der Koordination, sondern ein Ventil für Angst. Sobald das sichtbar war, konnten wir erste Experimente starten: eine klare Trennung von Informationsrunden und Entscheidungsgremien, kürzere Meetings mit verbindlichen Outcomes, Rotationen in der Moderation. Der Effekt: weniger Sitzungen, mehr Klarheit und eine spürbare Entlastung im Team.


Kleine Experimente mit großer Wirkung

Veränderung einer Besprechungskultur ist kein Großprojekt. Sie beginnt mit kleinen, gezielten Experimenten. Studien der MIT Sloan School zeigen beispielsweise, dass schon kurze 15-Minuten-Meetings in bestimmten Konstellationen produktiver sind als klassische Stundenslots. Andere Unternehmen experimentieren mit Meeting-freien Tagen, um wieder ungestörte Konzentrationsphasen zu schaffen.

Entscheidend ist nicht die einzelne Methode, sondern die Haltung: Meetings dürfen kein Selbstzweck sein. Sie müssen einem klaren Ziel dienen – und wenn das Ziel fehlt, braucht es das Meeting nicht.


Fazit: Meetings sind Kultur

Ob eine Organisation gesund ist, erkennt man nicht an ihren Leitbildern, sondern an ihren Besprechungen. Dort zeigt sich, wie Entscheidungen fallen, wie Konflikte bearbeitet werden und wie viel psychologische Sicherheit herrscht. Meetings sind ein Brennglas für die Kultur – manchmal auch ein Spiegel für ihre Schattenseiten.

Wer hier genau hinsieht, entdeckt Muster, die weit über die Agenda hinausgehen. Und wer bereit ist, diese Muster zu verändern, gewinnt nicht nur produktivere Meetings, sondern auch mehr Klarheit, Energie und Vertrauen im gesamten Unternehmen.


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